Die Glocken

Die Glocken

Überragend – und das schon eine lange Zeit

Ein etwas anderer Rückblick auf die Geschichte des St. Servatius-Kirchturms

In diesem Jahr wird ein Großer unserer Stadt, den wirklich alle Duderstädterinnen und Duderstädter kennen, 95 Jahre alt. Seine ausdrucksstarke „Mütze“ ist sein Markenzeichen, und man muss stets zu ihm aufschauen. Er ist durch seine beeindruckende Höhe sogar aus der Ferne sichtbar. Dieser beschriebene 95- jährige ist unser St. Servatius-Kirchturm. Wer so alt wird, hat bestimmt auch einiges zu erzählen. Und genau dies möchte unser Kirchturm jetzt tun. Daher sind wir nun gespannt, was er uns jetzt berichten möchte:

Wir schreiben das Jahr 1917 und ich gebe seit dem verheerenden Brand vor zwei Jahren nur noch ein kümmerliches Bild ab. Ich bin nur noch ein Stumpf von Turm und ein provisorisches Flachdach, das gegen die Wettereinflüsse schützen soll, bedeckt mein Haupt. Das Kirchendach überragt mich sogar, echt bitter! Die St. Servatius-Gemeinde kann in der Kirche allerdings schon wieder Gottesdienst feiern. Ein kleiner Hoffnungsschimmer mitten im 1. Weltkrieg – mit vielen Toten auch aus unserer Stadt.

Es sollten noch elf Jahre vergehen, bis man sich entschied, dass ich wieder wachsen darf. Es waren schlimme Jahre der Nachkriegszeit und der lange Schatten einer verheerenden Inflation bedrückte die Einwohner unserer Stadt. Was vielleicht nicht viele wissen: ich gehörte ja der Stadt Duderstadt - heute auch noch. Das liebe Geld – es fehlte in den Nachkriegsjahren. Die Stadtkasse war ziemlich leer.

Im Jahr 1928 besserte sich die wirtschaftliche Lage, und es stand eine ganz besondere Feier bevor. Duderstadt würde im Jahr 1929 tausend Jahre alt werden und das sollte natürlich gefeiert werden. Ich, als abgebrochener Riese, gab da wirklich ein jämmerliches Bild ab. Was sollen nur die Gäste der Stadt denken. Nun wurden Pläne und Kostenvoranschläge für einen Turmbau gefertigt. Es gab sogar vier Entwürfe, wie der zukünftige Kirchturm aussehen soll. Sie wurden aber alle abgelehnt. Die Architekten, die Gebrüder Siebrecht aus Hannover, gaben aber nicht auf und entwarfen mich neu auf ihrem Reißbrett.

Ja, was soll ich sagen, ich habe alle Honoratioren der Stadt mit meinem schmucken Aussehen überzeugt. Jetzt, anno 1928, konnte mit dem Wiederaufbau begonnen werden. Viele Handwerker legten fleißig Hand an. Ein großes Gerüst ermöglichte den tatkräftigen Arbeitern ein sicheres Wirken in luftiger Höhe. Ich bekam sogar Lanzettfenster eingebaut. Es sind ganz schmale Fenster. Sie sehen aus wie eine Lanze und haben ihren Ursprung aus der englischen Frühgotik. Toll, oder?

Schauen Sie, liebe Gemeindeglieder, da mal hin. Die Duderstädterin Clara Gerlach entwarf den schmucken und in der Sonne glänzenden Wetterhahn sowie den Blumenfries unterhalb des Turmhelms.

Apropos Turmhelm: Ist meine „Mütze“ nicht einzigartig und ausdrucksstark. Man sagt, es entspreche der expressionistischen Zeit. Mit ein wenig Stolz kann ich auch sagen, dass ich mit 64 Metern Höhe nun sogar um zehn Meter größer bin als früher. Zwei Kirchenglocken bekam ich zudem in die Glockenstube gehängt. Das war eine ganz schön knifflige und spannende Angelegenheit. Heute haben wir fünf Glocken für das Geläut und eine sechste kleine Glocke kam als Uhrschlagglocke dazu.

Am 2. Dezember 1928, dem 1. Adventssonntag, fand die festliche Einweihung statt. Es wurden viele feierliche Reden gehalten und sogar der Bischof aus Hannover reiste an. Was für eine Ehre!

Am Abend wurde ich von großen Scheinwerfern, die in den umliegenden Häusern aufgestellt waren, angeleuchtet. Ach, war das stimmungsvoll! Zudem sollten die Geschäftsleute ihre Auslagen in den Schaufenstern schmuckvoll präsentieren und – wenn möglich – ihr Geschäft tagsüber zum Einkauf öffnen.

Bis ins Weltkriegsjahr 1942 war mein Turmhelm mit Kupferplatten belegt. Das Kupfer wurde abgenommen und, wie schrecklich, für die Munitionsherstellung verwendet. Seitdem zieren Schieferplatten mein Haupt. Die Turmuhr wurde erst im Jahr 1937 installiert.

In all den Jahren danach habe ich viel gesehen. Vieles mit Freude. Anlässe wie Hochzeiten, Stadt- und Gemeindefeste aber auch fürchterliche Geschehnisse, wie die Reichskristallnacht und die damit verbundenen menschenverachtenden Handlungen.

Auf der Kirchenglocke, die jeden Mittag um 12 Uhr läutet, ist folgende Inschrift angebracht:Verleih uns Frieden gnädiglich

Möge dieser Frieden in der Welt und in den Herzen der Menschen immer einen Platz haben.

Ihr St. Servatius-Kirchturm